Frauen und neue Kommunikationstechnologien


VIRTUELLES CROSSDRESSING
IDENTITÄTSKONSTRUKTION VIA CYBERSPACE
-YOU ARE WHO YOU PRETEND TO BE!-

Irina Gangl, Friederike Rumschöttel, Gerald Zahn




Im Internet kann Identität nicht mehr als Einheit betrachtet werden: Durch die Möglichkeit des anonymen Zugangs oder des einloggens unter einem "Pseudonym" - als in keiner Weise rational zu rechtfertigendes Phantasie-Etwas -, wird in der virtuellen Kommunikation stets, wenn überhaupt, nur ein Teil des Selbst von der virtuellen Identität repräsentiert. Die Identität verliert somit definierte Grenzen, wird dehnbar und variabel (Angerer 1993, S.744).
In diesem Zusammenhang wird naturgemäß die Frage nach der Geschlechteridentität virulent: Sind wir auf dem Weg in eine Welt des sogenannten "dritten Geschlechts" (besser: keines oder viele!), die auf eine Differenzierung zwischen weiblich und männlich im biologischen und kulturellen Sinn verzichten kann? Führt dieser Weg dann nicht nur zur Auflösung von Identität und Geschlecht, sondern zwangsläufig auch in die Körperlosigkeit?


1. Zum Begriff der Identität


Die Frage, ob das "Selbst" einheitlich oder vielfach ist, stellt sich zum ersten Mal Sigmund Freud im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. C.G. Jung definiert das "Selbst" als Aufeinandertreffen verschiedener Archetypen. Diese eher vagen "Annäherungsversuche" werden erst im Frankreich der 70er Jahre dieses Jahrhunderts von den Poststrukturalisten (Lacan, Foucault, Guattari und Deleuze) intensiviert. Für Jacques Lacan ist das Ego als einheitliches "Selbst" Illusion. Es sei vielmehr das Ergebnis von Diskursen: Durch die Sprache als Rahmen, in dem Diskurse ablaufen, werde das "Selbst" immer wieder neu konstituiert und könne somit nicht als substantiell Seiendes bezeichnet werden. Jeder ist also eine Vielzahl an Teilchen, Fragmenten und gewünschten Verbindungen.

Im Zuge des Feminismus verlagert sich dann die Debatte auf die Diskussion der Auflösung der Kategorie "Geschlecht" als eine wesentliche Komponente des "Selbst". In diesem Zusammenhang ist das 1990 erschienene Buch "Gender Trouble" (1991 auf deutsch: Das Unbehagen der Geschlechter) besonders wichtig.
Für Butler entsteht Geschlechtsidentität durch die ständige Nachahmung eines nicht vorhandenen Originals ("Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." Simone de Beauvoir). Der Körper entsteht durch die "Bezeichnungspraxis", d.h. er wird nicht anhand einer einmaligen Zuschreibung manifest, sondern konstituiert sich vielmehr durch die steten Wiederholungen der Bezeichnungen entlang diskursiver Regeln immer wieder von neuem. (Lorey 1993, S. 13). "Weiblich" bzw. "männlich" sind die gewohnten und somit als "natürlich" gebrauchten Bezeichnungen. Der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit
"verschleiert indes, daß der natürliche Körper nicht vor dem bezeichnenden Diskurs liegt, also prädiskursiv ist, sondern durch die wiederholten darstellenden Akte oder Handlungen erst in seiner Bezeichnung als "weiblicher" oder "männlicher" hervorgebracht wird." (Ebda.)

Um in der Gesellschaft anerkannt zu werden, müssen wir allerdings "Frau" oder "Mann" werden, um sozusagen kulturell lesbare Geschlechtsidentiäten vorweisen zu können. Der Körper wird also als Oberfläche benutzt, um darauf die gesellschaftlich geforderte geschlechtliche Identität einzugravieren. "Frau" und "weiblich" bzw. "Mann" und "männlich" sind also keine natürlichen und damit feststehenden Begrifflichkeiten, sondern sowohl Körper- als auch Geschlechtsidentität können als ge- bzw. erlernte Imagination (immer in Abhängigkeit von historischen, kulturellen, geographischen und politischen Gegebenheiten) entlarvt werden.
Die Trennung der Einheit von "sex" und "gender" ist ein erster Schritt in Richtung einer Vervielfältigung der Geschlechter.


2. Internet


Das Medium Internet hat zur Möglichkeit der Aufhebung der Zweigeschlechtlichkeit und zu der Vervielfältigung der Geschlechter beigetragen. Im virtuellen Raum kann Identität nicht mehr als eine Einheit verstanden werden. Die Grenzen einer Identität sind nicht mehr klar definiert, sondern offen und variabel. Durch die Anonymität hat der User die Chance "Aspekte des Selbst" auszudrücken, neue Aspekte zu finden.

Man kann neue Identitäten ausprobieren und damit spielen .Für viele liegt der Reiz auch darin, daß man im virtuellen Raum eine Identität ohne gesellschaftliche Vorurteile und Zuschreibungen erfahren kann. Die Tatsache, daß man von den anderen Usern nicht gesehen wird, erlaubt es zu kommunizieren, ohne sich als Mann oder Frau definieren zu müssen. Auch die Gestik und die Mimik spielen im Internet keine Rolle. Dieser Aspekt, daß man jemand ist, der nicht über seinen Körper definiert wird, gibt vielen eine neue Sicherheit in der Kommunikation mit anderen.
Nach diesen Überlegungen, stellt sich die Frage ob man nicht, wenn man "Identität" neu definiert, auch den Begriff "Realität" neu definieren muß? Können und wollen wir unsere reelle Identität von unserer im Internet neu geschaffenen Identität trennen, oder kommt es zu einer Verschmelzung von Virtualität und Realität?
Und wer, oder was sind wir im Internet ? Sind wir ein Objekt (eine Information), dem erst ein Charakter und Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben werden müssen?
Im Internet ist nicht nur die Möglichkeit einer multiplen Identität gegeben, sondern es ist auch die Rede von der Reduzierung auf ein Geschlecht. Der Cyborg (= Cybernetic Organism) ist eine Möglichkeit nach dem Geschlecht: Die Identität befreit sich von ihrer sexuellen Konnotation.

Multiple Persönlichkeiten gab es früher auch schon, das Wechseln der Identität war allerdings ein Phänomen von Randgesellschaften (z.B: Dr. Jekyll und Mr. Hide waren so eine "split - peronality"). Eine Spaltung der Persönlichkeit wurde immer als pathologisch krank angesehen, es galt als Abweichung von den gesellschaftlichen Regeln und Normen.
Schon in der heutigen Gesellschaft sind die Normen und Regeln nicht mehr so klar definiert, und im Internet verlieren sie an Bedeutung.


2.1. Muds


"When I first logged on to a MUD, I named and discribed a character, but forgot to give it a gender." (Turkle 1995)

Muds ist die Abkürzung für Multi-User-Dungeons oder -Domains. Sie basieren auf einem in den 70er Jahren erfundenen Rollenspiel, in dem sich Leute ihre Charaktere selbst kreierten und entweder Abenteuer oder soziale Gemeinschaften erlebten.
Für das Internet bedeutet das, daß in den Muds auf Text basierende soziale virtuelle Welten darstellen. Die Mitspieler sind die Autoren des Textes, ihrer Selbst und ihres Umfeldes. In Muds kann man die Person sein, die man sich vorstellt zu sein. "You are, who you pretend to be." (Turkle 1995, S. 12)
Außerdem ist es möglich mehrere Charaktere durch das Öffnen von mehreren "windows" gleichzeitig zu spielen.
In Abgrenzung zum Rollenspiel bedeutet das, daß man in Muds nicht körperlich am Geschehen teilnimmt. Es findet ein kontinuierlicher Prozeß der Identitätskonstruktion statt, man agiert anonym.
Beim Rollenspiel findet die Kommunikation face-to-face statt. Man tritt für die Zeit des Spiels in einen Charakter hinein und wieder hinaus.

Muds bieten also die Möglichkeit ein Selbst zu konstruieren, das einem womöglich besser erscheint, als sein reelles Ich.

Die Motivation für Frauen als Mann ins Netz zu gehen, kommt daher, daß sie das Gefühl haben, ihre Meinung wird ernst genommen, wenn sie einen männlichen Charakter verkörpern. Als männlicher Charakter wird es nicht als schüchtern oder zurückhaltend empfunden, wenn man passiv bleibt.
Männer trauen sich als weiblicher Charakter Gefühle zu zeigen. Sie präsentieren sich oft als "Traumfrauen": fabulous hot babe! Auf der anderen Seite haben objektiv "unattraktive" Frauen häufig den Wunsch, in einem Mud ihre "körperliche Schönheit" in mehr als zwei Absätzen zu beschreiben..

Im Internet kann das Crossdressing (einloggen als das andere Geschlecht) Probleme hervorrufen. Z.B.: Wie beeinflußt das Geschlecht Sprache und Verhalten und das Sprechen über Erfahrungen.
Das "echte" Geschlecht zu erraten, wird zum Sport. Neutrale Charaktere verunsichern andere MUD-Teilnehmer. Das Wissen über das "wirkliche" Geschlecht vermittelt auch in dem eigentlich anonoymen Rahmen des Internets so etwas wie Sicherheit. Geschlechtliche Differenzierungen sind offensichtlich eine der wenigen Orientierungspunkte in der virtuellen Welt geblieben.

"For some men and women, gender bending can be an attempt to understand better or to experiment savely with sexual orientation. But for everyone, who tries it, there is the chance to discover [...] that for both sexes, gender is constructed." (Turkle 1995, S. 223)



Literatur:


Angerer, Marie-Luise (1993): The Pleasure of the Interface. Beziehungsgeflechte in einer telematischen Kultur. In: Das Argument, 35. Jg., Heft 5, S. 737-748.
Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lorey, Isabell (1993): Der Körper als Text und das aktuelle Selbst: Butler und Foucault. In: Feministische Studien, 11. Jg., Heft 2, S. 10-23.
Turkle, Sherry (1995): Life on the screen. Identity in the Age of the Internet. New York: Simon & Schuster.


Für Inhalt und Gestaltung verantwortlich: Johanna Dorer