Frauen und neue Kommunikationstechnologien


PORNOGRAFIE UND SEXUALITÄT IM INTERNET

Bauer Renate/Binder Susanna/Walter Petra




I. SEX IN DEN DATENNETZEN - EINE BESTANDSAUFNAHME


Die Frage, die sich unsere Arbeitsgruppe gleich zu Anfang stellen mußte, war die nach dem Angebot des Pornografischen im Internet, aber auch nach jenen Bereichen, die sich mit dem Thema Sexualität beschäftigen.
„Sex in den Computernetzen. Das moderne Aufklärungsbuch." von Jörg Schieb und Uwe Kauss hat uns dahingehend einen Überblick über das derzeitige Angebot geliefert.
Für die Presse besitzt das Thema „Internet und Pornografie" natürlich eine ungeheure Schlagkraft. Und so scheint es vielleicht mancher/m LeserIn so, als würde mensch im Netz fortwährend über pornografisches Material stolpern. Diesen Vorwurf weisen viele NetsurferInnen, die sich mit hoher Frequenz im virtuellen Raum aufhalten, ab. Vielmehr sind sie oft gegenteiliger Ansicht, nämlich daß der Anteil von Pornografie im Netz im Vergleich zum Gesamtangebot eher gering ist und es auch großteils eine Schwierigkeit ist, an das Gewünschte heranzukommen.
Nehmen wir zum Beispiel die weit über 10.000 Nachrichtenbereiche, aus denen das Usenet besteht. Nur 70 davon beschäftigen sich intensiv mit Liebe, Erotik und Pornografie. Unter diese nicht einmal 0,7 der gesamt angebotenen Gruppen fallen auch reine Diskussionen und Foren mit beratendem Charakter (Vgl. Schieb, 1996, S. 123). Obwohl vor einiger Zeit eine Studie etwas anderes beweisen wollte: Ein Forscherteam der Carnegie Mellon Universität (letztendlich bestand das Forscherteam nur aus einer Person) veröffentlichte 1995 unter anderem, daß 83,5 % der digitalisierten Bilder in den Usenet Newsgroups pornografisch seien. Lange konnten sich die recherchierten Daten nicht aufrecherhalten lassen. Donna L. Hoffman und Thomas P. Novak, ein Professorenehepaar der Vanderbilt Universität und hervorragende Kenner der Materie nahmen die Studie unter die Lupe und widerlegten sie.
Es gibt aber auch andere Stimmen und nicht nur von Presseseite, sondern auch von NetzbewohnerInnen, die das pornografische Angebot stört. Auf jeden Fall - und warum sollte es anders sein - spielt Pornografie und Sexualität im Global Village eine Rolle, auch wenn nicht ganz klar ist, in welchem quantitativen Ausmaß. Das Angebot reicht von privat gestalteten Seiten über E-Zines (hierbei handelt es sich um nicht-kommerzielle elektronische Magazine, die kostenlos im Netz verteilt werden. Nach Jörg Schieb beschäftigen sich einige auch mit dem Thema Sex und versuchen dies auf provokative oder intellektuelle Weise) und Newsgroups, aber natürlich finden sich auch kommerzielle AnbieterInnen.
Da einige TeilnehmerInnen unseres Seminares vor allem im WWW und dem Usenet ihre ersten Erfahrungen mit dem Internet gesammelt haben, möchten wir in weiterer Folge etwas näher auf deren Angebot eingehen.


Angebote im Word Wide Web und Usenet


Im WWW fnden sich zum Thema „Sex":

  • Angebote von privaten Seiten
  • Angebot in Form von Abos (z.B. Hustler)
  • E-Zines (Electronik Magazines)
  • Sex-Shops und Videos (z.B. Beate Uhse)
  • Das World Wide Web ist ein Dienst von vielen anderen im Internet. Alle Informationen jedoch, die verstreut auf Tausenden Servern gespeichert sind, werden mittels des WWW miteinander verknüpft.
    Auf der einen Seite ist zu bemerken, daß die privaten Seitenanbieter, die Pornografisches ins Netz stellen, zurückgehen. Grund dafür könnte die heftige Mediendiskussion - ausgehend von der USA und Kanada - betreffend Kinderpornografie im Netz sein. Auf der anderen Seite bieten jedoch immer mehr und mehr kommerzielle AnbieterInnen ihre Produkte und Dienstleistungen an. Versandhäuser von Reizwäsche, Sex-Shops, Videoversand etc. liegen nicht falsch, wenn sie zukünftig im Netz eine optimale Werbe- und Verkaufsfläche sehen.

    Auch im Usenet, dem weltweiten Diskussionsbereich des Internets, findet Pornografie, Erotik und Sexualität entweder im Gespräch darüber oder im Versenden von diversen Bildmaterial und Texten seinen Platz.
    In den meisten Newsgroups scheint es kein ausgewogenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern zu geben. Dies kann kaum verwundern und liegt vielleicht weniger an der Zurückhaltung der Frauen zu diesem Thema als vielmehr an den Text- und Bildinhalten, die im Netz kursieren.
    Nehmen wir zum Beispiel das angeführte Angebot des Usenet, das Jörg Schieb ausgewählt hat. Er stellt 26 Newsgroups vor, in denen es um die unterschiedlichsten Formen von Sex und Erotik im Netz geht. Bei drei von diesen 26 Newsgroups wird detailliert von dem Autor darauf hingewiesen, daß auch Frauen an der Kommunikation teilnehmen. Bei den restlichen Newsgroups geht es hauptsächlich um das Versenden von Bildmaterialien.


    Achtung: Stau auf der Datenautobahn!


    Daß Cyberpornos von Anfang an gern von den NetzbewohnerInnen besucht wurden, hatte seine Konsequenz: Verminderte Kapazitäten bei der Datenübertragung und verstopfte Leitungen. Aber anscheinend zweigen die Forschenden auf ihrer Reise über die Datenautobahn gerne einmal ab. Doch fahren zuviele bei der selben Abfahrt ab, schaffen dies die Großrechner nicht mehr. Was dann passiert, ist denkbar. Die Datenübertragung geht schleppend bis gar nicht mehr voran. Der Superstau. Grund für einige Einrichtungen - z.B. für Universitäten - bestimmte Foren aus dem Netzprogramm zu streichen.



    Global Village und Grenzüberschreitungen - Zensur oder autoregulative Maßnahmen?


    Ständige Debatten innerhalb der Netzgemeinschaft über Sex und Pornografie haben dazu beigetragen, daß sich Mechanismen der Selbstkontrolle in Gang gesetzt haben, die jedoch keinerlei Einfluß auf Kriminelle im Netz ausüben. So werden Kinderpornos meistens nur noch über E-mail ausgetauscht, und daher ist diese Art von Verteilung von den Betreibern und den Service-Providern nicht mehr kontrollierbar.
    Schattenseiten wie diese lösen immer wieder Diskussionen rund um die Auswirkungen einer Zensur im Netz aus. Doch oft genug schon haben voreilige Sittenwächter, wenn sie zum Zug gekommen sind, kräftig danebengelangt. Im November 1995 verschafft sich ein Müncher Staatsanwalt mit zehn Beamten und einem Durchsuchungsbeschluß Zugang zur deutschen Zentrale des Online-Dienstes CompuServe. Dieser sperrt daraufhin rund 200 Newsgroups (alle, die sich - in welcher Art und Weise auch immer - mit Sex beschäftigen) auf ihrem Zentralrechner in Columbus. „Die Crux: Der Zugang ließ sich nur international sperren, nicht nur für deutsche Kunden, so daß die Empörung entsprechend international war. Neben einem knappen Dutzend Gruppen, in denen sich dem Namen nach tatsächlich Kinderpornografie vermuten läßt, waren auch sämtliche Schwulen-Foren des Gaynets betroffen, ebenso wie eine Gruppe, in der Frauen Hilfe nach Vergewaltigungen angeboten wird. Auch eine Gruppe, die sich mit der Sexualtität von Behinderten beschäftigt, wurde ungeniert geschlossen." (Schieb, 1996, S. 127)

    Autoregulative Maßnahmen können dazu beitragen, NetzbewohnerInnen, die gewisse Grenzen überschritten haben, mit gezielten Aktionen auf ihr Verhalten hinzuweisen. Zum Beispiel das Bombardieren der Mailbox - dies wird den Provider auf den Plan rufen, welcher, „versiegt" der Posteingang nicht, den Account sperrt.

    In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, inwieweit es im Netz mit der Stellung der Frau aussieht. Ähnlich der in der „realen" Welt oder genießt sie mehr Rechte und Würde? Wie auch in der Welt außerhalb des Netzes hängt dies vom „Raum" ab. In Bereichen, die von Männern dominiert werden - und das sind fast alle, die nicht ausschließlich für Frauen zur Verfügung stehen - kommt es genügend oft zu Übergriffen, gegen die mensch sich wehren sollte. Denn auch im Netz versuchen Männer Frauen herabzusetzen und zu entwürdigen. Und auch hier wird dies gern über die Sexualtität der Frau versucht. Zensurmaßnahmen von außen sind sicherlich keine Lösung. Autoregulative Maßnahmen stellen jedoch nur dann eine Möglichkeit dar, wenn sich genügend NetzbewohnerInnen finden, die sich gegen (i.d.F.) sexistische Verhaltensweisen gemeinsam auflehnen. Aber gerade in jenen Bereichen, wo der Sexismus „blüht", sind Frauen eher selten anzutreffen, und eine Kritik auszusprechen ist dementsprechend schwierig. Das Ideal im Netz eine Sphäre vorzufinden, in der Grenzen verschwimmen und verschwinden, scheint noch weit entfernt.



    II. NUTZUNGSVERHALTEN


    Im Internet stößt mensch wahrscheinlich auf ein ähnliches Angebot wie es auch im „realen" Leben zu finden ist, und darunter fällt auch Pornografie, Erotik und Sexualität. Das ist nichts Neues - bis auf die Tatsachen, daß pornografisches Material nicht mehr vorwiegend dem privaten Raum vorbehalten bleibt, und NetzbewohnerInnen die Möglichkeit haben - scheinbar relativ unkompliziert - mit Sex umzugehen. Das Bedürfnis sich über Sexuelles auszutauschen besteht, und dies in verschiedenen Varianten.



    Die „passive" Nutzung von Pornografie


    Bei einigen Angeboten scheint sich nur das Medium geändert zu haben. So besteht heute nicht nur die Möglichkeit Pornografisches in gebundener Form und auf herkömmlichen Bild- und Tonträgern zu konsumieren, sondern auch über einen Netzanschluß. Der Weg zum Zeitungskiosk, in die Videothek oder in den Sexshop muß mensch nicht mehr gehen. Diese Variante erscheint beim ersten Hinsehen wesentlich anonymer. Schließlich besteht die Möglichkeit körperlos und somit physisch nicht erkennbar vor diversen virtuellen Schaufenstern zu verweilen. Obwohl mensch natürlich genauso erkannt werden kann. So etwa über seine Kontonummer oder Kreditkartennummer, die er bei der/m kommerziellen AnbieterIn angeben muß. Aber auch eine gewisse Rückverfolgbarkeit über einen eingegebenen Suchbegriff besteht.
    Der Gedanke, nur über Daten gekannt zu werden, erscheint für viele vielleicht angenehmer, als die Alternative, jederzeit auch physisch erkennbar zu sein.


    Verteilersysteme: „...Hat außerdem jemand Bilder von seiner Frau beim ..."


    Ein reger Austausch herrscht auch von pornografischen Material über Privatleute. Hinter diesen Newsgroups, in denen vor allem Bilder von Frauen verteilt werden, steckt nicht nur grober Sexismus, sondern oft auch Rassismus. So findet man Newsgroups für Fotos von Asiatinnen, Afrikanerinnen etc.
    Der Cyberspace kann auch zum Feld der Rache werden, z.B. dann, wenn ein von seiner Frau verlassener Mann, ein Nacktfoto seiner „Ex" in den passenden Foren dafür verteilt. Die Frau als Geächtete, am Cyberpranger, dafür das sie ihren Mann verlassen hat. Die Frau als Ware, je nach Nachfrage in der jeweiligen Position und Aufmachung, damit der Mann seine Macht über sie deutlich demonstrieren kann. Die Frau als Repräsentationobjekt, wie ein Auto hebt sie auch hier den „Wert" des Mannes bzw. unterstreicht ihn.
    Es ist nämlich nicht nachvollziehbar, ob es sich bei den als Privatfotos ausgegebenen Materialien wirklich um jene Frauen handelt, als die sie (Ehefrauen, Freundinnen) von den Männer ausgegeben werden. Es ist keine große Kunst mehr, sich einen künstlichen Traummenschen mittels Computer zusammenzupuzzeln. Da kann sich plötzlich ein unscheinbarer, wenig sicherer Mann die Frau zaubern, die ihm gefällt, aber viel mehr zählt noch, er kann sie den InternetbewohnerInnen als seine Frau vorstellen, das hebt seinen Wert und tröstet ihn vielleicht darüberhinaus, daß sie nur emotionslos in seinem Bildschirm hockt.



    „Aktiv" werden


    Hinter diesem „aktiv werden" steht die Möglichkeit sich in vielfältiger Art über sexuelle Belange auszutauschen. Dieser Austausch, kann sehr verschieden aussehen - vom beratenden Gespräch bis hin zu Sex-Talks (besser: Sex-Writing), wo es sehr konkret zur Sache gehen kann. Es stellt sich die Frage nach dem Motiv: steckt dahinter eher eine gewisse Neugierde, seine sexuellen Fantasien mit einer/m Unbekannten auszutauschen und dabei selbst eine beliebige Rolle einnehmen zu können. Oder handelt es sich um einen. Ersatz für etwas, das man in der Gesellschaft nicht vorfindet. Ersatz für eine Gesellschaft, über deren Sexualität und Liebe nicht selten noch das Tabu verhängt ist (homosexuelle Liebe, weibliche Sexualität, Sexualität der Kinder etc.). Mit Sexualität wird scheinbar zwanglos umgegangen - oft auf Kosten der Frauen, aber auch der Männer. Aber dieser ständigen Thematisierung im Fernsehen, den Printmedien und auf Plakatwänden, steht nicht unbedingt eine wachsende sexuelle Aufgeschlossenheit gegenüber. Im Gegenteil, die Medien scheinen hier weniger Spiegel der Gesellschaft zu sein. Sex wird eher eingesetzt, um Umsätze, Einschaltequoten und Auflagezahlen zu steigern. In dem Ausmaß, in dem Sex als bloßes „Potenzmittel" für Fernsehshows, Werbungen etc. eingesetzt wird, in diesem Ausmaß wird ihm nichts ernsthaftes entgegengesetzt, das dazu beitragen könnte eine Aufgeschlossenheit zu fördern und mit alten Tabus zu brechen. In diesem Sinne könnte die virtuelle Welt einen Ersatz darstellen. Eine Welt zu finden, in der mensch nicht unbedingt an meinen Körper gebunden bin. Vielleicht sieht mensch hier auch eine Möglichkeit sich den vielen Variationen - die Sex bieten kann - spielerisch anzunähern (z.B. Annehmen einer beliebigen Identität).

    Sind die Menschen, die sich im Netz bewegen, dieselben wie im „realen" Leben? Zumindest befinden sie sich in einer anderen Umwelt, in der sie die Möglichkeit haben, sich anders als bisher zu verhalten. Ein wenig erinnert es an das Phänomen, das oft im Urlaub auftritt und das von vielen Menschen als Ausbruch aus ihrem Alltag gesehen wird. Sich so richtig gehen lassen, keine Rücksicht nehmen müssen, ein/e andere/r sein - eben eine andere Rolle einnehmen. Die alltäglichen Tabus und Reglementierungen seiner eigenen Gesellschaft scheinen hier weniger in Kraft zu sein. Manche/r meint, daß dieses Entdecken und Ausleben seiner verschiedenen Identitäten im Netz positive Auswirkungen im „realen" Leben haben wird. Unter Identität fällt auch die sexuelle Identität. Kann man das Netz als eine Möglichkeit sehen, seine sexuelle Identität auszuprobieren, um mit den gewonnen Erfahrungen seine eigene Sexualität besser zu verstehen, was sich wiederum positiv auf Beziehungen auswirken könnte?
    Oder beläßt mensch es bei mehr oder weniger langen Ausbrüchen aus seiner Umwelt, um in der Cyberspacegemeinschaft unterzutauchen, und dort seine Fantasien auszuleben, ohne daß dies auf ihn und seine Umwelt weiterwirkt?



    III. THEORETISCHE ASPEKTE


    Viele Fragen müssen wohl noch ohne Antwort bleiben. Ein Prozeß, der gerade begonnen hat, kann oft nur Fragen aufwerfen, die erst die Zukunft zu beantworten vermag. Trotzdem soll dieser Abschnitt sich gerade mit diesen Gedanken beschäftigen: Welche Auswirkungen wird die virtuelle Welt auf unser Dasein, auf unsere Sexualität haben? Slavoj Zizek hat sich in seinem Aufsatz „Sex in Zeiten der virtuellen Realität" diese Fragen gestellt und wir haben einige Punkte seines Aufsatzes als „Sprungbett" in unseren Diskussionen verwendet.



    Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

    Das herausragende Kennzeichen der „neuen Medien" besteht in dem Hervorbringen eines neuen Gemeinschaftstriebes,
    der als Ersatz für die fortschreitende Desintegration unseres tatsächlichen Gemeinschaftsleben gesehen werden kann.
    (Vgl. Zizek, S. 39)
    Die Faszination des Netzes dürfte wohl in der Tatsache liegen, daß es der/dem Beteiligten freisteht, auszusuchen, wer sie/er sein, was sie/er sein will und wie lange sie/er da sein will. Die Möglichkeit des Ausstiegs, doch zuvor noch „Alles" zu sagen, gibt der zwischenmenschlichen Interaktion eine neue Dimension. Aber kann man dabei jemals wahrhaft an einer Interaktion beteiligt sein?



    Die virtualisierte Realität

    Zizek geht der Frage nach, wie virtuell die sogenannte Realität immer schon war. Der Mensch, der sich in dieser Form der Kommunikation nun alles aussuchen kann, erkennt in Folge auch die Austauschbarkeit von allem, was er glaubt zu sein. Aber ist dann nicht der Schluß naheliegend, daß das, was dann übrig bleibt, das „Ich selbst" ist? Es wird jedoch im Text vor dem Ziehen voreiliger Schlüsse gewarnt, denn "(...) hier lauern einige Fallen. Allen voran das Konzept, daß vor der Computer-generierten Virtualisierung der Realtität wir es mit einer direkten, „realen" Realität zutun gehabt hätten: die Erfahrung der virtuellen Realität sollte uns vielmehr dafür sensibilisieren, wie die „Realität", mit der wir uns befassen, immer schon virtualisiert war." (Zizek, 1995, S 40)
    Damit ist gemeint, daß zum Beispiel Geschlechtsidentitäten, Gefühle, Empfindungen, Identifizierungen mit einem Ich-Ideal, jeder Vorgang der elementarsten, symbolischen Identifizierung kein unmittelbares Faktum sei, sondern virtuell, symbolisch (also mittels Sprache) konstruiert ist.



    Gibt es noch ein Begehren?


    ... die „neuen Medien" und der Erstickungstod des Begehrens: Wird man zukünftig noch etwas suchen? Wenn man bedenkt, daß zukünftig alle Daten mit immer geringerer Verzögerung zur Verfügung stehen, wird dann nicht auch der Begriff der Suche und das, was dem Begriff der Suche zugrunde liegt, nämlich das Begehren, erstickt? Wenn man das Begehren als einen Kurzschluß zwischen primordial verlorenem Ding und einem empirisch, positiven Objekt, daß aufgefunden werden will, begreift, so liegt der Schluß nahe, daß man bei der Verfügbarkeit über alle empirischen Objekte (mittels Computer) übersättigt wird.
    Oder anders, daß bei jener erwähnten Anhäufung jedes vorläufig gefundene Objekt sofort entwertet wird und an Reiz verliert. „Eines steht deshalb fest: Die Ankunft des Cyberspace wird die grundlegende Struktur unseres Vermögens zu Begehren bis zur Unkenntlichkeit zerstören und transformieren, er wird das Paradox des Begehrens offenlegen, indem er der kreativen Sublimierung den Boden entzieht, der uns ein Entkommen aus diesem Paradox des Begehrens ermöglicht (die Tatsache, daß das Begehren durch den Mangel gestützt wird und so seiner Befriedigung entgeht, d.h. dem eigentlichen Ding, nach dem es offiziell strebt): wir erheben ein empirisches, gewöhnliches Objekt zur „Würde des Dings", wir setzen es als unerreichbar/verboten, und diese Unzugänglichkeit hält die Flamme unseres Begehrens am Leben." (Zizek, 1995, S. 37). Gleichzeitig, obgleich es verfügbar erscheint, ist das vorläufig aufgefundene Objekt seiner Substanz beraubt.
    Welche Auswirkungen hat dies nun im zwischenmenschlichen Bereich z.B. bei der Auffindung einer/s passenden PartnerIn? Wie wirkt es sich aus, wenn sexuelles Begehren in die Banalität einer Massenware abzugleiten droht? Wenn ich das Besondere vom Allgemeinen und jederzeit Verfügbaren nicht mehr zu unterscheiden vermag? Wie wirkt es sich aus, wenn im Bereich der Sexualität scheinbar nichts mehr unerreichbar bleibt bzw. wenn dann eigentlich alles unerreichbar bleibt - und lediglich Fantasien besser „ausgelebt" werden können. Wobei sie eigentlich nicht ausgelebt, sondern nur in den virtuellen Raum gestellt werden. Was bedeutet es für eine Person, wenn es den Rahmen eines Verbotes nicht mehr gibt?



    Gibt es noch Sexualität?

    ... die „neuen Medien" - das Mittel, daß das Ziel auszuschalten vermag.
    Der Computer, einst als Mittel zur Erleichterung menschlicher Bedürfnisse entwickelt, zeigt heute mancherorts seine Tendenz zur Verselbständigung.
    Beispielsweise wurde der Computer zunächst eingesetzt, um Zeitungen schneller herstellen zu können, jedoch liegt heute die Frage bereits nahe, wozu man eigentlich noch Zeitungen herstellt und nicht gleich dazu übergeht, den Text via Internet zu vertreiben. (Wobei es Internet-Zeitungen bereits gibt, entweder als eigenständige Publikationen, die nur im Internet verbreitet werden oder als zusätzliches Angebot eines Mediums neben der herkömmlichen Ausgabe.)
    Der, der Technologie zugrundliegende Motor, wird also durch den vielleicht berechtigten Einwand „Wozu dann eigentlich noch" in Frage gestellt. Zizek spannt von diesem Ausgangspunkt seinen Bogen über zur Sexualität. Diente der Computer zunächst dazu, Rendezvous mit einem geeigneten Partner auszumachen, so wurde auch dort bald deutlich, daß es offensichtlich genügt einem virtuellen Partner zu sagen, was man mit ihm tun möchte, um ein sexuelles Erlebnis zu haben. Der Informationsaustausch an sich wird so lustvoll erlebt, daß der eigentliche Motor des Bedürfnisses sich zu treffen und der eigentliche Akt in den Hintergrund treten.
    Wie ist dies aber möglich? Wie kann es sein, daß ein sich „darüber unterhalten" derart sexuell erregend sein kann? Liegt das Reizvolle in dem Faktum, nicht gesehen zu werden? Oder ist es vielmehr darin zu sehen, daß ich Wünsche äußern kann, die ich meiner „realen" Umwelt nicht mitteilen kann? Ist dies nun Sex, oder ist es eine Variante von Sex? Ist dies eine andere Form eines Tagtraumes?



    Reduktion der Sinnlichkeit?

    „Vergiß Rasse, Geschlecht, im Cyberspace bist du, was du sein willst". (Zizek, 1995, S. 38) Dieser häufig von TechnologiebefürworterInnen geäußerte Slogan verdient eine nähere Betrachtung.
    Hält man sich im „Reich der Sinne" auf, so kann man der Frage kaum ausweichen, was den Sinn, die Empfindung, eigentlich ausmacht. Dabei begibt man sich auf gefährlichen Boden, denn die so optimistischen Zukunftsvisionen können zumindest ins Wanken geraten. Versucht man dem nachzuspüren, was unser Begehren, unsere Sinnlichkeit und unsere Interaktion ausmacht, und überlegt man welche und wieviele Lernprozesse und Reizerlebnisse nötig sind, um Interaktion oder Sinnlichkeit zu erkennen, so liegt nahe, daß das Computermedium allein, als einzige Interaktionsform für menschliche Praxis nicht genügt. Daher ist es auch fraglich, ob die Computerinteraktion als adäquater Ersatz für zwischenmenschlichen Umgang dienen kann. Wieweit hat also ein Gespräch über Sex mit Sexualität zu tun?



    Die äußere Permanenz
    (Vgl. Peirce)

    Ein von Charles S. Peirce genannter Begriff, meint das wohl wesentliche, aber bei Computerinteraktion fehlende Element, nämlich die objektive Umwelt. Der Mensch hat die Fähigkeit ganze Welten aufzubauen, gleichsam „riesigen Gebäuden" - aber es gibt ein unumstößliches Faktum dabei zu beachten, etwas, das durch das Objekt repräsentiert wird, den Realitätsbezug. (zum Beispiel: Möglicherweise sitzt ein Mensch vor dem Computer und konstruiert sich als reich und schön, gleichzeitig kann derselbe Mensch vor dem Computer verhungern, da er zur Zeit keine Arbeit hat und sich nichts zu essen kaufen kann.
    Die äußere Permanenz ist als die uns umgebende Umwelt zu verstehen, die sinnlich wahrnehmbar ist, die von uns mittels Sprache interpretiert wird und über die wir uns verständigen.
    Wie ist sexuelle Erregung über geschriebenen Text, den man sich im „Gesprächsaustausch" zukommen läßt und liest, ohne äußere Permanenz möglich? Was ist die Basis, von der aus die Assoziationen ihren Lauf nehmen?
    Jemand kann in den Computer schreiben: „Ich berühre dich hier - kannst du es fühlen?" und jemand schreibt zurück: „Ja - ich fühle deine Hand." Wäre es hier auch möglich zu schreiben: „Ja - ich assoziere Deine Hand, an dem von Dir genannten Ort!"?
    Es handelt sich hierbei um eine Leistung des Denkens und dennoch wird etwas körperlich fühlbar.
    Pierce schreibt über den Menschen „Was ist der Mensch? - der Mensch ist ein Gedanke. Der Gedanke ist ein Symbol - somit ist der Mensch ein Symbol."
    Die Basis, von der aus die Assoziation ihren Lauf nehmen, kann nur im eigenen Körper liegen. Der Körper ist das Wahrnehmungsorgan, das wiederum interpretiert wird durch die Sprache. Der hochdifferenzierte Prozeß, der beispielsweise zu einem Satz führt, wie: „Ja - ich fühle mich selbst", setzt bei einem „diffusen Reiz" am eigenen Körper ein, der mittels Sprache interpretiert wird.
    Das setzt aber voraus, daß der diffuse Reiz in Beziehung zu irgendetwas anderem gesehen werden kann. (Differenz) - (non ego) Der Satz „Ich fühle mich selbst", setzt also voraus, daß sich das „Ich" (ego) über den Weg der Körperwahrnehmung und der Konfrontation mit Differenz einen Weg gebahnt hat, sich selbst interpretieren zu können, sich als Subjekt zu erkennen. Das Subjekt reflektiert sich als ein Wirkliches.
    Wie verhält sich dies nun zur Virtualität unserer Realität, zum „Geborensein" in Kultur und Sprache?
    Zizek sieht in den „neuen Medien" eine Möglichkeit der Virtualität unserer Realität kritischer gegenüber zu stehen, sofern sie nicht den zwischenmenschlichen Kontakt zu ersetzen drohen. Tun sie es, so kann nach Zizek nicht mehr von Zwischenmenschlichkeit gesprochen werden, da man nicht einfach nur „lügen" kann, sondern die Sache sei hierbei fundamentaler, man kann eigentlich niemals wirklich, wahrhaft beteiligt sein, da man jeden Moment abspringen, sich ausklinken kann.
    „In den virtuellen Gemeinschaftssexspielen kann ich hemmungslos sein, alle meine schmutzigen Träume ausschütten, gerade weil mein Wort mich nicht mehr verpflichtet, nicht „subjektiviert" ist ..." (Zizek, 1995, S. 41) Die Kommunikation findet also nicht mehr vor dem Hintergrund einer uns gemeinsamen äußeren Permanenz statt - es fehlt der Realitätsbezug, zu dem auch das „Ich selbst" gehört.
    Der Schluß liegt nahe, daß es sich bei dieser Form der Kommunikation nur um eine mehr oder weniger amüsante Variante der Gesprächsführung handelt.


    Anmerkung: Das Kapitel „Definition von Pornografie" wurde in den vorliegenden Text nicht aufgenommen. Die vollständige Arbeit, die im Rahmen des Seminars „Frauen und neue Kommunikationstechnologien" entstand, findet sich am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien.


    ZITIERTE LITERATUR:

    Peirce, Charles S.: Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie.
    Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    Schieb, Jörg/Kauss, Uwe: Sex in den Computernetzen. Das moderne Aufklärungsbuch. Frankfurt/M.: Ullstein, 1996.
    Zizek, Slavoj: Sex in Zeiten der virtuellen Realität. In: Turia & Kant (Hg.): Ligaturen. Wien: Turia & Kant, 1995. S. 36 - 42,

    WEITERE INTERESSANTE LITERATUR ZUM THEMA:

    Dane,Eva/Schmidt, Renate (Hrsg.): Frauen & Männer und Pornographie. Frankfurt/M.: Fischer, 1990.
    Grabig, Jens: Erotik im Internet. Düsseldorf: Sybex, 1995.
    Hans, Marie-Francoise/Lapouge, Gilles (Hrsg.): Die Frauen - Pornographie und Erotik. Interviews. Frankfurt/M: Luchterhand, 1990 (2. Aufl.).
    Henkel, Claudia/Rodeck, Bigga: Computerpornos? Ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt.
    In: Anakonga (Hg.): Turbulenzen. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1994. S.55-68.
    Lautermann, Rüdiger: Spaß an Pornografie - darf das sein? In: Dunde, Siegfried Rudolf (Hg.): Wenn ich nicht lieben darf, dürfen´s andere auch nicht. Hamburg: Rowohlt, 1987. S.196-210.
    Schmidt, Gunter: Pornografie oder Macht und Unterwerfung als sexuelle Stimulans. In: Das Große Der Die Das. Über das Sexuelle. Hamburg: Rowohlt, S.143-155.
    Valverde, Mariana: Pornografie nicht nur für Männer. In: Valverde, Mariana: Sex, Macht und Lust. Hamburg: Orlanda Frauenverlag, 1989. S.131-157.

    Für Inhalt und Gestaltung verantwortlich: Johanna Dorer